Stärker ist die Liebe
Im April 1981, ich war neun Jahre alt, schenktet ihr mir ein Poesiealbum. Ich gab es Dir und bat dich um einen Eintrag. Du schriebst: Stärker ist die Liebe.
Ich hatte etwas in der Art „in allen vier Ecken soll Liebe drin stecken“ erwartet, vielleicht noch ein hübsches Glitzerbildchen dazu und war von deinem eher kargen Eintrag doch recht enttäuscht.
Es hat einige Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, wie richtig und wichtig dein Eintrag war.
Als Jugendlicher hast du bei einem Ausflug Ende der 50er Jahre mit deiner Jugendgruppe ein paar junge Holländer kennengelernt und dich mit einem von ihnen angefreundet. Diese Freundschaft hielt bis zu seinem Tod und es war dir vollkommen egal, dass er nicht Frauen, sondern Männer liebte. Er und sein späterer Lebensgefährte waren immer bei uns willkommen und dass in einer Zeit, in der „so etwas“ noch nicht gesellschaftlich akzeptiert war. Das war dir egal, denn stärker ist die Liebe.
Auch Herkunft und Hautfarbe waren für dich nie ein Thema. Was „die Leute reden“ hat Dich nie interessiert, Du hast Deine Meinung vertreten und Dein Ding gemacht. Das stieß natürlich nicht immer auf Begeisterung, doch am Ende war dir immer wichtig, dass sich alle wieder versöhnen und den Standpunkt des anderen wenn schon nicht teilen, dann wenigstens akzeptieren. Meistens hat das geklappt, denn stärker ist die Liebe.
Als kleines Mädchen fragte ich oft Abends vorm Einschlafen ob ich den Flieger machen darf. Ich sprang dann vom Bett in Deine Arme und ich wusste, du wirst mich immer auffangen, egal was der Tag gebracht hatte, denn stärker ist die Liebe.
Als ich Kind und Teenager war, hast du so manches Geheimnis von mir durchschaut und vor Mama verborgen. Das hat ihr sicher einigen Kummer und mir sicher einigen Stubenarrest erspart. Egal, was ich angestellt habe, Du hast immer zu mir gehalten, denn stärker ist die Liebe.
Deine Entscheidungen stießen in der Familie nicht immer auf Begeisterung, manches war für uns schwer zu schlucken. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, uns einiges auch wirklich schwer fiel, wir fanden immer wieder zueinander, denn stärker ist die Liebe.
Irgendwann fing das Blatt an sich zu wenden. Nicht mehr du musstest auf mich aufpassen, sondern wir mussten dich unterstützen. Das war nicht immer einfach, manchmal gerieten wir auch aneinander, aber es wurde immer wieder alles gut, denn stärker ist die Liebe.
Vor einiger Zeit hast Du angefangen, uns aufgrund Deiner Krankheit langsam und leise zu verlassen und zum Schatten deiner selbst zu werden. Langsam und leise war noch nie dein Ding, irgendwie überrascht es mich nicht, dass du die große Bühne letztendlich durchaus spektakulär verlassen hast. Schon immer hast du gesagt, dass Du dein Haus nur mit den Füßen voran verlassen wirst. Du hast es geliebt, uns dort zu Besuch zu haben. Als Highlight ließt Du Dir immer deine Gitarre reichen und spieltest das Lied, das du noch kanntest, während wir nicht schön, aber laut und voller Inbrunst vom Schiff sangen, dass vor Madagaskar lag. Wenn uns die Matrosen gehört hätten, hätten sie wahrscheinlich fluchtartig das Schiff verlassen, aber wir fanden uns großartig, denn stärker ist die Liebe.
Ich möchte mich auch im Namen meiner Schwester und unserer Familien noch einmal für die unglaubliche Unterstützung bedanken, die ihr uns habt zuteil werden lassen. Bitte helft uns ein letztes Mal und schickt das Schiff vor Madagaskar auf seine letzte Reise.
